Verenas Dinggedichte

»Ich bin der Bügel«

Benutzen, wegwerfen, reparieren, zerlegen, anmalen, in eine Vitrine stellen und von Zeit zu Zeit abstauben – es gibt unendlich viele Möglichkeiten, mit Dingen umzugehen. Dinge anzubeten ist etwas aus der Mode gekommen, ausgewählte Dinge in der imaginären Samthülle einer persönlichen Erinnerung aufzubewahren, hingegen sehr verbreitet. Manche Dinge werden gewaschen, geschleudert und getrocknet, andere tiefgefroren, in den Ofen gesteckt oder gleich in Brand gesetzt. Dinge sollten aber nie in die Nase oder ins Ohr gesteckt werden, abgesehen von wenigen medizinisch begründeten Ausnahmen.

Ausschnitte aus dem Interview mit Verena
(Untertitel verfügbar)

Verena Richter und ihr Dinggedicht No. 167
(mit freundlicher Erlaubnis der Künstlerin)

Dinge, die sanft bewegt oder gestreichelt werden, haben es möglicherweise besser als solche, die gegen Wände geschleudert, mit knüppelartigen Gegenständen traktiert oder mit den Füßen getreten werden. Aber auch das ist eine verbreitete Praxis, Sportparks sind berüchtigt dafür. Uns interessieren nicht nur die exotischen Arten des Umgangs mit Dingen – aber die doch vor allem.

Deswegen haben wir Verena Richter aus München kontaktiert. Verena schreibt Gedichte über Dinge. Auf den Punkt gebracht: Sie schreibt DINGGEDICHTE. Dinggedichte? Wir erinnern uns vage an diese klugen Zeilen von Mörike oder Rilke. »Der Panther« – gewaltig und dunkel! »Auf eine Lampe« – eine kluge Ode auf ein vernachlässigtes Objekt. Diese Dichter haben sich in ihren lyrischen Werken auf die Suche nach dem Kern der Dinge begeben, haben ihnen raffinierte Resonanzen abgelauscht und in ihnen das ganze Universum gespiegelt.

Verena hängt die Sache nicht ganz so hoch:

»

Ich bin,

Ich mach es kurz,

Der Furz.

An diesem Text ist gut abzulesen, dass sich Verena von der poetischen Tradition – vorsichtig ausgedrückt – gelöst hat. Man könnte es auch deutlicher sagen: Sie hat mit dieser Tradition nicht viel am Hut. Kurz und lakonisch sind ihre Gedichte. Desillusionierend und etwas albern. Zeilen wie aus dem Leben. Bei der Auswahl ihrer Sujets ist sie einfallsreich, aber nicht sehr wählerisch. Es geht um Haushaltsgegenstände wie den Bügel, die Gabel oder den Abwasch, um Speisen und Getränke, aber auch um körperliche Phänomene wie den Ausschlag oder den Pickel. Auffallend häufig schreibt sie über Musikinstrumente, was daran liegen könnte, dass die Autorin selbst auch Musikerin ist. Und außerdem haben Musikinstrumente ja nicht selten interessante Eigenschaften, manche schleppen auch ein regelrechtes Trauma mit sich herum, etwa die Bratsche:

»

Ich bin die Bratsche.

Man sagt:

»Der Himmel hängt voller Geigen.«

Von mir aus …

Solln sie doch dort bleiben

Hintersinnige Texte und poetische Späße

In den Dinggedichten des 19. Jahrhunderts standen oft Kunstgegenstände im Zentrum der Betrachtungen, berühmt ist etwa das Gedicht »Der römische Brunnen« von Conrad Ferdinand Meyer. Es bezieht sich auf einen Brunnen in der Villa Borghese. Das Gedicht hat den Autor so sehr beschäftigt, dass er mehr als zwanzig Jahre und sieben Anläufe benötigte, bis er eine Textversion aufs Papier gebracht hatte, die er dann nicht mehr weiter veränderte. Bei Verena geht es etwas schneller – sie hatte sich mal vorgenommen, jeden Tag ein Dinggedicht zu schreiben, aber das Tempo war dann doch etwas zu hoch.

Ihre Gedichte beziehen sich keineswegs nur auf Gegenstände, die man in die Hand nehmen kann. Auch abstrakte Phänomene wie das Ich oder das Schweigen werden von ihr verdinglicht. Die meisten Texte sind von erlesener Kürze, natürlich auch dasjenige über den Augenblick, das sich über drei hintersinnige Zeilen erstreckt:

»

Ich bin der Augenblick.

In dem dir einfällt,

Dass du mich verpasst hast.

Wie raffiniert dieser Text mit dem Vergehen von Zeit spielt, dürfte den meisten Leser:innen erst auffallen, wenn der Augenblick des Lesens längst vorbei ist. Schon in der dritten Zeile hat sich das lyrische der ersten Zeile in Luft aufgelöst. So schön und lakonisch kann man das Mysterium des Augenblicks besingen.

Zwei Bände mit jeweils hundert Dinggedichten hat Verena veröffentlicht – im eigenen Verlag. Es liegt ihr überhaupt nicht, die Dinge, denen sie sich widmet, auf einen imaginären Sockel zu stellen. Oft ist es eher umgekehrt: Immer wieder stößt man auf ironische Brechungen und amüsante Wendungen. Sie holt die Dinge – und damit auch das Genre – vom Sockel auf den blanken Dielenboden. Manche Texte folgen einem schlichten Sprachspiel oder einer klanglichen Eingebung, wie etwa das Gedicht über den Bügel, das den Bogen zur Kirchenglocke schlägt:

»

Ich bin der Bügel

und hing mal Hos

und Hemd und Socke

an ne riesengroße Glocke,

und es machte tagelang

Kleidung-ding-dong,

Kleidung-ding-dang.

Diese poetischen Späße wirken am besten, wenn sie vorgetragen werden. Gerne ist Verena, wenn nicht gerade die Pandemie das verhindert, mit ihren Texten auf Kabarettbühnen unterwegs. Sie spielt dabei nicht nur mit Worten, sondern auch auf dem Saxophon. Und zu allem Überfluss kann sie auch noch malen. Zu vielen ihrer Gedichte hat sie Cartoons gezeichnet und stellt diese auch öffentlich aus.

Ein Ding ordnet den Tagesablauf

Verliert man bei derartig vielen Tätigkeiten nicht die Übersicht? Besteht die Gefahr, sich zu verzetteln? Das findet sie nicht – im Gegenteil: »Ich habe oft das Gefühl, dass ich letztendlich immer das gleiche tue, auch wenn sich die Mittel unterscheiden.« Und sie hat einen Ort gefunden, an dem sie vieles verbinden kann: die Theaterbühne, für die sie textet, performt und musiziert.

Natürlich waren die letzten eineinhalb Jahre nicht leicht. Veranstaltungen fielen reihenweise aus, Musikunterricht war nicht erlaubt. Ihre zwei Kinder mussten zu Hause betreut werden, dazu kam eine Trennung vom Partner – mehr Ausnahmezustand geht kaum noch. Und dennoch hat sich für Verena in dieser komplizierten Zeit etwas geklärt: Sie will sich in Zukunft ganz auf die künstlerische Arbeit konzentrieren, vor allem aufs Produzieren für die Bühne. Dass ihr die verschiedenen Projekte nicht über den Kopf wachsen, dafür sorgen eine gewisse Disziplin und einige wenige Rituale. Und – wie könnte es sein – ein Ding.

Lese-Tipp:

Verena Richter:
Dinggedichte 1–100
Dinggedichte 101–200
Fliegenzilp-Verlag
Jeder Band kostet 9,90 Euro
Zu beziehen über: www.dinggedichte.de

Verenas Website: http://verenarichter.de

Es ist eine gläserne Tasse von unauffälliger Gestalt, angenehm rundlich geformt. Sie verträgt kalte wie heiße Getränke, ein solides Gefäß. Künstlerisch ist es weit entfernt von sämtlichen Brunnen Italiens, aber irgendwo zwischen den mehr oder weniger transparenten Flächen hängt eine persönliche Erinnerung: Mit der Tasse hat sich eine Freundin dafür bedankt, dass Verena sie vor vielen Jahren beherbergt hat. Heute bringt sie Struktur in den Alltag. Morgens füllt sie sich mit Kaffee, nachmittags mit Tee. Die Tasse verleiht dem Tag Stabilität, sie sorgt für Wohlbefinden, vielleicht auch für Inspiration, wenn der Dampf aufsteigt und ein duftender Nebel sich über einem Gedichttext, einem Notenblatt oder einer Skizze für ein Theaterstück ausbreitet. Die Tasse ist ein FABELHAFTES DING, ein Gedicht über sie ist mehr als überfällig!