Kevins Laptop

Umwege, nicht Defizite

 

Ausschnitte aus dem Interview mit Kevin
(Untertitel verfügbar)

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Das Verschwinden der Dinge in der digitalen Welt

In digitalen Prozessen kommen Dinge gar nicht mehr vor, sondern nur noch Zeichen. Nach der Revolution der Dingverhältnisse in der kapitalistischen Warengesellschaft betrifft die digitale Revolution das Schicksal der Dinge vielleicht am nachhaltigsten. Und dies ist der Grund für den wuchernden Diskurs der letzten Jahre über das Verschwinden, das nicht nur die Dinge, sondern den Raum, die Subjekte, den Körper etc. erfasst haben soll.

Hartmut Böhme, »Fetischismus und Kultur«

Alles verschwindet. Mappen, Schultaschen, Tafeln, Stühle. Auch die Lehrerin schrumpft auf Postkartenformat, ihre Stimme klingt blechern, vielleicht schrill. Es verschwindet noch viel mehr: die Turnhalle, der Geruch nach Schweißfüßen, das Gefühl für die Energie des Aikido-Partners. Und auch diese Sonntage in der Pagode Viên Giác verschwinden, Sonntage, die angefüllt sind mit Gartenpflege, mit Tänzen und Gebet.

Alles verschwindet. Aber Kevin ist noch da. Er ist fast 18, er ist kontaktfreudig, wirkt aufgeschlossen, freundlich. Er geht in die 12. Klasse eines Gymnasiums. Als wir Kevin gefragt haben, welcher Gegenstand für ihn wichtig geworden ist, welches sein FABELHAFTES DING ist, haben wir aufgehorcht: Der Laptop? Ist das überhaupt ein DING? Ist das nicht eher ein Medium, ein Tor ins Virtuelle, zu Online-Spielen, Bildern, Filmen, Aufgaben, Chats und Mails?

Kevins Laptop hat äußerlich nichts Individuelles – nicht einen einzigen Aufkleber findet man. Der Desktop ist vorbildlich aufgeräumt: oben links die Dokumentenordner, oben rechts Spiele, unten rechts die wichtigsten Anwendungen. Kevins Zimmer ist winzig, aber es hat zwei Fenster: das Größere führt nach draußen zum Garagenhof, das kleinere öffnet sich in die andere, die digitale Welt. Wenn er durch dieses Fenster sieht, dann lösen sich die Wände seines Zimmers auf.

Ehrlich gesagt: Der Blick in Kevins kleines Zimmer hat uns etwas Sorgen gemacht. Ist das nicht ein perfektes Abbild dieser erzwungenen Isolation? Jede und jeder hockt in seinem kleinen Raum und versucht mittels digitaler Endgeräte, irgendwie an das alte Leben anzuknüpfen. Aber dann haben wir bald gemerkt, dass wir uns um Kevin keine großen Sorgen machen müssen. Von Albträumen, in denen die ganze Welt für immer hinter einer dreizehn Zoll großen Mattscheibe verschwinden könnte, hat er bislang wenig gehört.

Wenn man den Gymnasiasten fragt, wie sehr er den Lockdown als Einschränkung empfindet, dann bekommt man die erstaunliche Antwort: gar nicht. Kevin verabredet sich mit Freunden zu Online-Spielen, er produziert Videos für die vietnamesisch-buddhistische Gemeinschaft und natürlich bekommt er seine Hausaufgaben über das digitale Lernsystem. Es gibt für alles eine Alternative. Und dabei ist dieser Laptop extrem nützlich.

Vom Freizeit- zum Arbeitsgerät

Allmählich verstehen wir das: Für Kevin ist das Gerät wirklich ein FABELHAFTES DING – mit ein paar Einschränkungen. Seit dem Beginn der Pandemie hat sich der Laptop vom Freizeit-Instrument weiterentwickelt und ist jetzt manchmal auch mit negativen Gefühlen besetzt: Wenn umfangreiche Aufgaben erledigt und lange Textdokumente bearbeitet werden müssen. »Es ist ein Umweg«, sagt er. Umwege sind manchmal lästig, aber sie führen auch zum Ziel. Klar, er bedauert es, dass es nur noch so wenige direkte Kontakte gibt. Aber fast alles lässt sich ersetzen – sogar das Aikido-Training, diese Kampfkunst, deren Ziel es ist, einen Angreifer mit sanften Mitteln unter Kontrolle zu bringen. Kevins Verein bietet zurzeit Online-Stunden an, nach denen man auch gut für sich selbst trainieren kann.

Wir machen ein Spiel: Stell dir vor, du müsstest für zwei Wochen auf deinen Laptop und alle anderen Digitalgeräte verzichten. Kevin verzieht das Gesicht. Das wäre schlimm. Oder andersherum: Du würdest für zwei Wochen auf eine einsame Insel gehen, hättest aber einen Internetanschluss und deinen Laptop. Kevin zögert nicht lange. Das geht in Ordnung. Und wenn der Aufenthalt zwei Monate dauern würde? Er überlegt und lächelt. Er müsse ja irgendetwas essen und dann gäbe es doch sicher einen Koch, mit dem er sich unterhalten könne.

Im Zweifelsfall hilft ihm etwas Schlitzohrigkeit aus der Enge. Sein Alltag ist alles Mögliche, aber keine einsame Insel. Die Begegnungen mit Freunden, soweit die Corona-Regeln das erlauben, sind für ihn wichtig, die Familie auch. Kevin ist in Deutschland geboren und zweisprachig aufgewachsen. Bis vor wenigen Jahren ist er mit seinen Eltern jedes Jahr nach Vietnam geflogen, zur Familie und damit er das Land kennenlernen kann. Er fühlt sich der vietnamesischen Kultur verbunden. Mit dem Leben in zwei verschiedenen, manchmal widersprüchlichen Welten kennt er sich aus. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass er so gelassen mit der Situation umgeht. Er kann sich auf veränderte Konstellationen einlassen. Kevin sieht nicht die Defizite, er sieht die Möglichkeiten. Er passt sich an, geschmeidig wie ein Aikidoka scheint er den Angriffen auf das gewohnte Leben auszuweichen.