Simones Lippenstift
Haltung mit Maske
Wir könnten ihn auf den Altar legen, wie eine Opfergabe. Aber ist das in Ordnung? Darf man das? Nur wenige Handbreit entfernt läge die aufgeschlagene Bibel, darüber das Altarbild mit einer Kreuzigungsszene: Soldaten, Trauernde, diverses Volk, sogar ein Kamel ist dabei.
Ausschnitte aus dem Interview mit Simone
(Untertitel verfügbar)
Das Gemälde ist das unumstrittene Schmuckstück in diesem sonst schlichten Kirchenraum. Es entstand in der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren, Anfang des 16. Jahrhunderts.
Wir sind in der Kreuzkirche, einem der drei gotischen Gotteshäuser in der Altstadt von Hannover. Und dann tun wir es: Wir legen den Lippenstift auf das weiße Altartuch. Die Hülle glänzt golden, der Stift selbst färbt Lippen in einem warmen Rotton. Wirkt er hier nicht fehl am Platz, ein Symbol menschlicher Eitelkeit? Ist an diesem Ort nicht Zurückhaltung in Sachen körperlicher Ausschmückung angesagt? Das Bild der Kreuzigung, vor vierhundert Jahren mit feinem Pinsel gemalt und noch immer von einer intensiven Leuchtkraft, und der Stift, der Lippen für einen Tag verschönert – ein starker Kontrast.
Mitgebracht hat den Lippenstift Simone, die als Hochschulpastorin in der Kreuzkirche Gottesdienste und Andachten mit Studierenden feiert. Warum ihr dieser Gegenstand wichtig geworden ist, erklärt sie mit einem feinen Lächeln in Rot: »Gerade jetzt kommt es mir darauf an, meine äußere und innere Haltung in Einklang zu bringen. Und so trage ich gerne auch unter der Maske Lippenstift.«
Der geschminkte Mund unter der Maske – ein Bild, in dem sich vieles bündelt: Eigensinn und Optimismus, aber auch ein Augenzwinkern. »Wir Christenmenschen waren schon immer Trotzköpfe«, sagt Simone. Übersetzt auf die Zeit des Abstandhaltens heißt das: Wir müssen uns mit den Bedingungen dieser Krise arrangieren und wir tun gut daran, nicht gleichgültig alles aufzugeben, nur, weil es gerade etwas schwieriger geworden ist.
Die Studierenden klagen nicht, aber sie leiden
Es helfe ihr, sagt Simone, wenn sie auch in dieser Zeit den Alltag strukturiere und sich selbst diszipliniere. Das klingt für den Augenblick protestantisch streng, aber mit jedem Satz wird plausibler, wie eng die Aufmerksamkeit für sich selbst und für andere zusammenhängen. Auch Simones Tage bestehen oft aus Videokonferenzen. Sie ist immer früh auf den Beinen, macht sich zurecht, als wäre sie auf dem Weg zu wichtigen Präsenzveranstaltungen. Niemals würde man sie vor dem Laptop mit Jogginghose antreffen. Sie zeigt ein fröhliches, geschminktes Gesicht – und sie trägt Schuhe, oft auch die goldenen, die sie sich kürzlich gekauft hat.
Wenn man nicht aufpasse, überlegt sie, komme man aus der Jogginghose irgendwann nicht mehr heraus. Und irgendwann übertrage sich die äußere Nachlässigkeit auch auf die eigene Haltung, die Sprache, die Gedanken. »Ausgelatschtes Denken möchte ich anderen aber nicht zumuten. Dafür ist mir das, wofür ich einstehe, zu wichtig.« Sie fürchtet, dass die erzwungene Distanz sich wie ein Gift ins Zwischenmenschliche einschleicht. Dass man sich keine Mühe mehr gibt mit den anderen, mit ihren Sorgen und Problemen.
Und davon gibt es ja einige, auch und gerade unter Studierenden. »Die Zeit des Studiums ist doch die Zeit, sich selbst auszuprobieren, anderen zu begegnen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.« Das ist im Augenblick nicht einfach. »Die Studierenden sind in den Medien nicht sehr präsent«, sagt Simone, »und die meisten, die ich kenne, klagen nicht laut, aber sie leiden.« Als Pastorin ist sie eine der wenigen, die Präsenzveranstaltungen durchführen kann, und sie spürt ein starkes Bedürfnis nach diesen Begegnungen, wenn sie jeden Mittwoch um 17 Uhr zur Andacht in die Kreuzkirche einlädt.
Gesicht zeigen
Diejenigen, denen es schon immer gelang, Herausforderungen mit Optimismus zu begegnen, können auch die Corona-Krise bewältigen. Schwierig wird es eher für die, die sich gerne in ihren Problemen vergraben. Man sieht sie dann vielleicht gar nicht mehr. Wenn das Leben nur noch auf Zoom stattfindet, wenn man sich selbst zum Kaffeetrinken nur noch vor Bildschirmen versammelt, von Vorlesungen und Seminaren ganz zu schweigen.
Der Lipstick-Index brach 2020 ein
In schlechten Zeiten wollen die Menschen sich etwas Gutes tun. Das behauptete der Kosmetik-Unternehmer Leonard Lauder und zeigte dies anhand von Verkaufszahlen seines eigenen Unternehmens, die er zum Lipstick-Index bündelte. In Notzeiten tätigen die Leute keine großen Anschaffungen, aber Lippenstift geht immer – so die Vermutung. Das galt sowohl für die Zeit nach den Terroranschlägen von 2001 wie auch für die Finanzkrise. Aber dann kam die Corona-Pandemie. Sie brachte den Lipstick-Index im Jahr 2020 zum Absturz. Schminkutensilien für die Augenpartie – Lidschatten, Mascara, künstliche Wimpern – erlebten dagegen einen Boom, konnten den Einbruch der Kosmetik-Industrie insgesamt aber nicht kompensieren.
Sorgen macht sich die Pastorin auch um eine wachsende Aggressivität. Was bislang vor allem aus den sozialen Medien bekannt war – Hasskommentare, unreflektierte und rassistische Beschimpfungen – das erlebe sie verstärkt auch bei direkten Begegnungen. Ähnlich wie die Anonymität des Netzes senke dabei die Maskierung des Gesichts die Hemmschwellen. »Gesicht zeigen« – eine Parole, die jetzt wichtig ist, trotz oder gerade wegen der Maske.
Damit mündet das Gespräch wieder in das paradoxe Bild vom geschminkten Mund, der zugleich verhüllt ist. Er könnte zu einem Motiv für ein Gemälde werden, das diese eigentümliche Zeit charakterisiert, den Widerspruch zwischen Wünschen und Dürfen, zwischen innerer Nähe und äußerer Distanz. Wir werfen noch einen Blick auf den Altar: Dass der Lippenstift da liegt, stört inzwischen gar nicht mehr. Er hat sich verwandelt, er ist zu einem Zeichen gegen Angst und Vereinzelung geworden. Der Lippenstift akzentuiert, sagt Simone. Er unterstreicht ihre Entschlossenheit, anderen mit Aufmerksamkeit und Optimismus zu begegnen – meist in einem warmen Rotton.