Nimas Postkarte
Was man (nicht) mitnehmen kann
Es ist ein Stück Pappe mit einem Bild darauf – eine Postkarte. Für Nima hat sie etwas Mystisches. Sie ist lebendig, sie erzählt eine Geschichte.
Ausschnitte aus dem Interview mit Nima (Untertitel verfügbar)
Ein FABEHALFTES DING – und zwar in einem ganz wörtlichen Sinn: Die Postkarte führt weit zurück in die Vergangenheit, sie erinnert Nima an ein bestimmtes Gefühl ihrer Kindheit, eines, das mit einem heißen Sommer in Teheran verbunden ist, vor allem aber mit der Liebe zu ihrem Vater. Damals war sie acht Jahre alt und ihr Vater brach mit einem Kompagnon zu einer mehrwöchigen Reise durch Europa auf. Der Familie ging es gut, die Geschäfte des Vaters liefen, aber auch Kultur war für ihn wichtig. Seine Bibliothek umfasste mehrere tausend Bände.
In der langen Zeit der Trennung von ihrem Vater bekam Nima mehrere Postkarten, aber diese eine war für sie etwas ganz Besonderes. Sie ist in Florenz abgestempelt, aber wahrscheinlich hat der Vater sie weiter nördlich gekauft, in Österreich. Denn auf der Karte sind Berge abgebildet und ein lustiges Auto. Es hat ein grinsendes Gesicht, ist mit Menschen und Gepäck vollgestopft und zieht einen Anhänger, auf dem ein Steinkegel festgebunden ist. Nima verstand die Aussage des Cartoons nicht, sie wusste nicht einmal, dass die Worte auf dem Bild in deutscher Sprache geschrieben waren. Vielleicht verstärkte gerade dieses Rätselhafte die Wirkung dieser Karte. Nima stellte sich vor, selbst auch so zu verreisen, mit einem lustigen Auto, mit ihrer Familie und natürlich mit ihrem Vater.
Der Niedergang eines Landes
So ist es nie gekommen. Und schon lange liegt die Ansichtskarte nicht mehr in Teheran, sie hat sich ein zweites Mal auf einen langen Postweg begeben und steht jetzt in einem Bücherregal in Deutschland, in Hannover. Hier lebt und arbeitet Nima. Die Karte hat sie sich vor vielen Jahren von den Eltern aus dem Iran nach Deutschland schicken lassen. Und als sie ankam, war Nima ganz erstaunt: Sie konnte die Worte lesen und sie war inzwischen sogar schon einmal am Großglockner gewesen. Die Karte schien ihr sagen zu wollen, dass Wünsche in Erfüllung gehen können, ohne dass man es merkt.
Der Cartoon allerdings hat wenig damit zu tun, was Nima bis dahin erlebt hatte. Er beschreibt, wie jemand etwas mitnimmt, was man nicht mitnehmen darf. Wie jemand glaubt, er könne die ganze Welt als Souvenir behandeln, sogar die Spitze des Großglockners. So macht sich der Zeichner über die Großmannssucht von Touristen lustig, die die Welt als ihr Eigentum betrachten. In Nimas Jugend dagegen rückte der Traum vom unbeschwerten Reisen in immer größere Ferne. Die islamische Revolution stellte eine ganze Gesellschaft auf den Kopf. Sie ließ das Land verarmen, die Kreativität verdorren. Nimas Vater war Marxist und politisch aktiv, wie auch andere Familienmitglieder. Sie hofften auf eine Erneuerung des Landes, stattdessen kamen immer mehr Einschränkungen und Rückschritte. Überwachung, religiöse Engstirnigkeit, Verbot all der Dinge, die für die Familie wichtig waren: Kultur, Freiheit, Reisen.
Nima erzählt von beängstigenden Besuchen der Sicherheitsbehörden. Sie kamen immer nachts, mit mehreren Leuten. Sie packten die Bücher in Decken, nahmen sie mit und ließen sie verschwinden. Die schönen Dinge wurden ausgemerzt und dann ging es ums nackte Überleben. Nimas Vater wurde verhaftet. Er kam kurze Zeit später wieder frei, andere Familienmitglieder blieben über Monate in Haft, einer über Jahre.
Berggipfel und Abgründe
Vor allem die Art und Weise, wie das Leben von Frauen beschränkt und mit Zwängen belegt wurde, konnte Nima nicht ertragen. »Ich habe ein Problem mit dem Kopftuch«, sagt sie. »Wenn der Staat bestimmt, wie du deinen Kopf verhüllen musst, dann will er auch über das bestimmen, was im Kopf ist.« Sie hatte eine Ausbildung als Krankenpflegerin absolviert und im iranisch-irakischen Krieg Verwundete versorgt. Später sattelte sie auf Theaterwissenschaften um. Aber eine lebhafte, freiheitsliebende Frau und das immer unfreier werdende Land passten nicht zusammen.
Nima emigrierte. Sie bewegte sich in die Richtung, aus der einst die Postkarte mit dem harmlosen Scherz über Touristen gekommen war. Sie ging nicht dorthin, um Gipfel zu besteigen, sondern um einem Abgrund zu entgehen. Und sie ließ vieles zurück. »Es gibt keine Gegenstände, an denen ich wirklich hänge«, sagt Nima heute. Sie hat gelernt, sich von Dingen zu trennen. Es ist ihr wichtiger, in Freiheit zu leben.
Verblasste Buchstaben in persischer Schrift
Der Neuanfang war mühsam: Sie lernte die Sprache, begann nach ihren beiden Ausbildungen, die in Deutschland nicht anerkannt wurden, eine dritte, dann eine vierte, ein Studium der Erwachsenenbildung. Bis vor einigen Jahren hatte sie trotz allem noch immer das Gefühl, dass sie nach Hause kommt, wenn sie in den Iran fährt. Mittlerweile hat sich das gedreht. Sie nennt Deutschland jetzt ihr Zuhause, sie hat hier Freunde (es ist allerdings kaum einer aus dem Iran dabei), sie hat einen interessanten Job bei der Stadtverwaltung von Hannover, es geht um politische Bildung. Für diese Aufgabe müsste sie eigentlich eine gute Besetzung sein. Sie sagt: »Freiheit ist doch das Wichtigste, was es gibt.« Vielleicht weiß sie mehr darüber als die meisten, die in Westdeutschland geboren und aufgewachsen sind und Freiheit für etwas Selbstverständliches halten – oder für das Recht, Berggipfel in den eigenen Garten zu versetzen.
Der Weg, den sie hinter sich hat, ist Nima immer präsent. Etwas davon erzählt die Postkarte in ihrem Bücherregal – mit ihren kuriosen Figuren und einem Witz, der Nimas Leben auf eigenartige Weise konterkariert. Der Text, den ihr Vater vor vielen Jahren auf die Rückseite der Postkarte geschrieben hat, ist verblasst und kaum noch zu erkennen. Nima hat die zierlichen Schwünge in persischer Schrift schon vor Jahren fotografiert, um das Bild zu bewahren. Die Karte ist ein Schatz, ein FABELHAFTES DING, das sie an eine vergangene Welt erinnert.