Michaels Kajak
Das aufblasbare Versprechen
Eiskristalle sitzen auf den Grashalmen, der Gartenteich ist zugefroren. Es ist kein Badewetter, als Michael den länglichen Riesenlappen auf dem Rasen ausbreitet. Aber das hält ihn nicht davon ab, uns zu zeigen, was im letzten Jahr für ihn wichtig geworden ist: Ein blaugraues Schlauchboot, etwa drei Meter lang, drei Luftkammern. Das sinkt nicht so leicht.
Ausschnitte aus dem Interview mit Michael
(Untertitel verfügbar)
Während er pumpt, wächst der Lappen zum Boot heran, ein luftgefülltes Kajak. Man könnte auch sagen: ein luftgefülltes Versprechen. Ein Versprechen auf eine kurze Auszeit auf dem See, auf etwas Abstand. Und Abstand ist einfach wichtig geworden im Jahr 2020.
Michael ist Biologe und arbeitet für ein Unternehmen, das diagnostische Geräte für medizinische Labore und Forschungseinrichtungen herstellt. Er führt Schulungen durch, ist viel unterwegs und ist dem Corona-Virus auf mehreren Ebenen begegnet. Als Naturwissenschaftler faszinieren ihn die Wirkmechanismen und Mutationen eines Virus, aber auch das Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und politischem Handeln, seit dem Beginn der Pandemie auf beispiellose Weise miteinander verschränkt. Michaels Frau ist Krankenschwester und hat zeitweise auf einer Corona-Intensivstation gearbeitet. Sie hat erlebt, was das Virus anrichtet.
Mit eigenen Augen sehen, mit hochauflösenden Mikroskopen ins Innere von Organismen hineinsehen – die Haltung, mit der Michael durch die Welt geht, ist die des prüfenden Blicks. Auch die eigene Bedrohung nimmt er sachlich zur Kenntnis, einen »Stressor« nennt er das Risiko einer Infektion. Mindestens ebenso belastend: die zunehmende Zahl von Menschen, die Fakten nicht mehr anerkennen, die Corona-Leugner und Produzenten von Verschwörungsmythen. Das mache ihm tatsächlich zu schaffen, sagt er.
Und da kam irgendwann das Boot ins Spiel.
Eine Wiederentdeckung. Angeschafft für einen Urlaub in Kroatien war es auf dem Dachboden verschwunden. Im Frühjahr 2020 lud er es ins Auto, für eine Dienstreise nach Schleswig-Holstein. Und seitdem hat ihn das Boot oft begleitet. Selbst wenn die Zeit für eine Bootspartie nicht reicht, gibt es ihm ein gutes Gefühl, das Ding dabei zu haben. Bringt er Termine oder Projekte rechtzeitig zum Abschluss, dann sucht er sich einen See, pumpt das Boot auf und paddelt für eine oder zwei Stunden raus ins Offene, lässt sich treiben, mit dem Blick in die Wolken.
Das ist keine Flucht, denn Flucht kommt für Michael nicht in Frage. Eher ein kurzer Ausflug aus einer angespannten Welt, ein Anhalten der Zeit. Es fügt sich gut ins Bild, dass ihn – physikalisch betrachtet – nicht das Material, sondern die unsichtbare Luft trägt. Das Ding an sich ist für Michael kein magisches Objekt, es ist ein Mittel zum Zweck. Ein Lappen, der sich zu einem Versprechen aufpumpen lässt.