Matthias’ Keyboard
Als der Mond aufging
Die kühle Abendluft streicht über das Fensterbrett, unten rollt ein Auto vorbei. Matthias schiebt das Keyboard vor den weit geöffneten Fensterflügel im zweiten Stockwerk. Er schaltet den Verstärker ein, rückt das Mikrofon zurecht. Die ersten Klänge fließen in den Raum über der Straße. Drüben, auf der anderen Seite, geht ein Fenster auf. Auf dem Gehweg bleiben Leute stehen, sehen nach oben, unsicher und neugierig. Matthias singt. Er singt von der Zeit, die noch bleibt. Davon, wie Menschen ihre letzten Tage verbringen, wie andere für sie da sind.
Ausschnitte aus dem Interview mit Matthias
(Untertitel verfügbar)
Matthias Petereks Song »Alles hat seine Zeit« in voller Länge
Es ist sein eigenes Lied, das von Erfahrungen aus dem Hospiz erzählt. Später folgt noch etwas, das alle kennen: Der Mond ist aufgegangen. Einige summen mit, die meisten lauschen. Dämmerung breitet sich zwischen Wohnhäusern aus.
Es ist eine sonderbare Nähe, die da im März 2020 für einige Minuten entsteht. Eine Nähe, die viele als wertvoll empfinden, in einer Situation, in der Distanz staatlich angeordnet wird und die Angst vor einem Virus auf der ganzen Welt umgeht. Die Menschen unten auf der Straße und der Sänger oben im Fenster, sie können sich nicht einmal sehen. Aber sie sind im Klang verbunden, im Gefühl einer gemeinsamen Gegenwart, getragen von einem 260 Jahre alten Gedicht und einer fast ebenso alten Melodie.
Mit Beginn des ersten Lockdowns und unter dem Eindruck dramatischer Entwicklungen, vor allem in Italien, hat die evangelische Kirche dazu aufgerufen, abends um 19 Uhr zu singen, zum Beispiel das berühmte Lied vom Mond. Es lobt dessen geheimnisvolle Schönheit, als Gegenbild zur umtriebigen Alltagswelt. Auch die Eitelkeit des Menschen, des »armen Sünders«, ist ein Thema. Demut und Andacht in der Natur – beides erleben viele Menschen in der Zeit des Lockdowns als elementare, vielleicht sogar ganz neue Erfahrung.
Sich mit Musik ausdrücken zu können, ist ein Geschenk
Für Matthias waren die Fensterkonzerte, diese Minuten einer Gemeinsamkeit in Distanz, kostbare Viertelstunden. Es wurde applaudiert, jemand hat mal ein Glas selbstgemachte Marmelade vorbeigebracht. Die Anerkennung tat gut, aber er hat das alles auch für sich selbst gemacht: »Ich bin ein sehr strukturierter Mensch – so spontan drauflos singen, ohne zu wissen, was passieren wird, das war eine Herausforderung, die mich gereizt hat.« Die Resonanz ermutigte ihn und er öffnete mehrere Wochen lang sein Fenster und musizierte, jeden Abend, an dem er nicht im Spätdienst arbeiten musste. »Ganz nebenbei hatte ich dadurch auch einen guten Grund, wieder zu üben und Lieder rauszusuchen, die ich schon länger nicht gespielt habe.«
Es ist für ihn ein Geschenk, sich mit Liedern und Musik ausdrücken zu können – den Grundstein legte einst ein etwas kauziger Großvater, der beharrlich dafür sorgte, dass Matthias Klavierspielen lernte, obwohl sich die Familie das kaum leisten konnte. Deshalb trägt er bis heute ein Foto von diesem Großvater im Portemonnaie bei sich und deshalb ist das Keyboard für ihn ein FABELHAFTES DING.
Die Fensterkonzerte im Frühjahr 2020 führten auch zu überraschenden Reaktionen. Irgendwann lag ein Zettel von einem Nachbarn im Briefkasten, durchaus höflich formuliert: Wie lange das Singen denn noch weitergehen solle, es würde anfangen zu nerven. Matthias lacht heute darüber. Er hat dann auch einen Zettel geschrieben, mit der Ankündigung, dass er nun noch ein letztes Mal spielen und singen werde. Die Zuhörerschaft auf der Straße war an diesem Abend noch etwas größer als sonst, die Menge aber epidemiologisch unbedenklich. »Dann hat es auch gereicht«, sagt der Liedermacher, »es wurden auch die ersten Lockerungen angekündigt.«
Lockerungen, ein verheißungsvolles Wort für die Suche nach einem normalen Zusammenleben, das sich doch anders anfühlt als das Leben zuvor. Für einige Menschen war in diesen Tagen Normalität kein Thema, Menschen, die im Hospiz ihre letzten Tage verbrachten. Matthias ist dort als Pflegekraft und Ausbildungsanleiter tätig. Und diese Arbeit, »dicht am Tod«, wie er sagt, prägt auch seine Sicht auf die Corona-Pandemie. »Während alle nur noch von Corona sprachen, sind Menschen auch an anderen Krankheiten gestorben.«
Den Tod als Teil des Lebens begreifen
Er ringt um Formulierungen und will auf jeden Fall vermeiden, dass seine Äußerungen als das Leugnen oder Relativieren von Gefahren verstanden werden könnte. Die Angst vor einer Corona-Infektion sei berechtigt, sagt er, aber man dürfe auch nicht das gesamte Leben dem Infektionsschutz unterordnen. Denn zu diesem Leben gehört der Tod dazu. An seiner Arbeitsstelle, dem Uhlhorn-Hospiz in Hannover, gab es auch Einschränkungen, während der gesamten Zeit war es jedoch möglich, Besuch zu empfangen. »Ich bin dankbar dafür, dass die Leitung unseres Hauses mit Augenmaß und Menschlichkeit gehandelt hat.« Viele Menschen an anderen Orten seien in der Pandemiezeit allein gestorben, ohne ihre Angehörigen. »Das war schlimm. Menschen sollten nicht alleine sterben müssen.«
Matthias erlebt mit, wie Wege zu Ende gehen, oft trifft es Menschen, die kurz zuvor gesund waren und mitten im Leben standen. Das kann man nicht einfach so abstreifen, das prägt auch den Blick auf die Umgebung, auf die Gesellschaft. In seinen eigenen Liedern verarbeitet er die Fragen und Zumutungen. Wenn der Tod sich ins Blickfeld drängt, lautet die am häufigsten gestellte Frage: ›Wie lange habe ich noch?‹ »Wir können diese Frage nicht beantworten«, sagt Matthias, »wir können nur sagen: ›Wir gestalten mit Ihnen diese Zeit, so gut, wie es geht. Und egal, wie lang sie ist.‹«
Die Hospizbewegung betrachtet es als ihre Aufgabe, den aus dem täglichen Leben verdrängten Tod wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken. Mit seinen Liedern und Vorträgen will Matthias einen Beitrag dazu leisten. Hat die Corona-Pandemie in diesem Sinn nicht auch etwas bewirkt? Er bezweifelt das. Die emotionalen Ausschläge empfand er mitunter als hysterisch und oberflächlich. »Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, damit umzugehen, aber inzwischen bin ich gelassener geworden.«
Eine Gelassenheit, die den Tod nicht ausspart – das wäre eine Haltung, auf die Matthias hinarbeitet. Und findet sich davon nicht einiges im alten Lied vom Mond, das im März 2020 eine Renaissance erlebte? Dem Dichter Matthias Claudius gelingt es, das Grundgerüst barocker Gottesfurcht so naturverliebt und menschenfreundlich zu verkleiden, dass das Lied auch in einer säkularen Welt konsensfähig ist. Und ja, der Tod kommt auch drin vor, er ist Teil des Geschehens. Aber nicht der Schlusspunkt.
Den Liedermacher Matthias Peterek findet man im Internet unter wolke5einhalb.de