Julias Klavier

Eine besondere Beziehung

Wahrscheinlich war es nie ganz weg. Aus ihrem Kopf und ihren Fingern. Und ihrem Herzen. Es hatte sich da eingenistet, hatte mehr als zwei Jahrzehnte lang auf einen passenden Augenblick gewartet. Geduldig und gutmütig, still und schwer.

Ausschnitte aus dem Interview mit Julia
(Untertitel verfügbar)

Julia fand diese Beziehung immer beglückend. Eine Kinderfreundschaft. Es begann damals, als sie acht Jahre alt war. Wenn sie aus der Schule kam und müde oder enttäuscht war, warf sie ihre Tasche in eine Ecke und legte los. Die ersten Jahre am Klavier sind für manche Kinder eine Quälerei, aber bei Julia war es anders: Sie hatte nie diesen Druck krampfhaft ehrgeiziger Eltern – sie wollte Klavierspielen, ohne Wenn und Aber. Heute sagt sie, das Instrument und sie hätten sich gefunden. Sie hatte einfach Glück.

Abzutauchen in die selbst hervorgebrachten Klänge war für sie so erfrischend wie für andere der Sprung in ein Schwimmbecken. Es brachte ihr Entspannung und Ausgleich. Ihr Lehrer war ein Herr von alter Schule: immer gut gekleidet, kein Freund von Experimenten, ein geduldiger Förderer des gediegenen Tastenspiels. Einer, von denen es heute wahrscheinlich nur noch wenige gibt. Als sie besser wurde, spielte er zusammen mit seiner Schülerin bei Seniorennachmittagen vierhändig.

Wenn Julia am Klavier sitzt, ist sie woanders und doch sehr präsent. Es ist nicht nur Träumerei, es ist auch Konzentration und die Auseinandersetzung mit den Ideen einer Komposition, mit dem Zusammenspiel von Kopf und Hand, mit Melodie und Harmonie. Zwölf Jahre lang hielt diese Kinderfreundschaft, bis nach dem Abitur. Julia und das Klavier gingen nicht im Streit auseinander, es war einfach so, dass diese Beziehung überlagert wurde von all den anderen Dingen, die im Leben eine Rolle spielen: Studium, Freunde, Job, Kinder, Reisen. Man verliert sich aus den Augen, geht andere Wege.

Fundstück in der neuen Wohnung 

Aber dann kam der Februar 2020: Der Sohn ihres Lebensgefährten zog in eine neue Wohnung, in der noch ein Klavier herumstand, das der Vormieter nicht hatte mitnehmen wollen. Vielleicht ist Julia da klar geworden, dass man so etwas nicht tut: ein Klavier einfach in einer Wohnung zurücklassen. Es war ein altes Instrument, mit ein paar Macken und sicher blieb auch hin und wieder mal eine Taste hängen. Aber ihr war schnell klar: Hier bot sich eine Gelegenheit, an eine lange zurückliegende Beziehung anzuknüpfen.

Ob das gelingen konnte? Sie war mehr als zwanzig Jahre lang raus, sie hatte die Hälfte ihres Lebens ohne Klavier verbracht, allenfalls mal kurz auf einem fremden Instrument herumgeklimpert. Das war weit von dem entfernt, was ihr das Klavierspiel damals bedeutet hatte. Würde es je wieder diese Wirkung entfalten wie früher?

An dieser Stelle muss Julia etwas in ihre Geschichte einflechten, eine Art Geständnis: Damals, kurz nach dem Abitur, hat sie das Klavier, diesen treuen Begleiter, verkauft, weil sie Geld für einen Führerschein brauchte. Einen Führerschein? So etwas Profanes? Sie sagt schulterzuckend: Ja, das war damals so. Man glaubte, dass man das braucht. Heute, in der Großstadt, wäre das sicher anders.

Es war also auch so etwas wie eine Wiedergutmachung, als im Februar 2020 wieder ein Klavier bei Julia einzog. Und sie ging behutsam in diese Begegnung hinein. Sie tastete sich heran, im wahrsten Sinne des Wortes. Erstmal die alten Noten aus dem Regal holen. Ausprobieren, was noch geht. Ob überhaupt noch etwas geht. Ob die alte Magie nicht vollständig verblasst und vertrocknet ist.

Auf den Tasten zurück in die Kindheit

Das alles geschah genau in den Tagen, als das Leben angehalten wurde, weil die Corona-Pandemie um sich griff. Betriebe, Geschäfte und Schulen wurden geschlossen, Treffen mit Freunden abgesagt, Reisen sowieso. Und in dieser sonderbaren, angstbesetzten Zeit nahm Julia das Klavierspiel wieder auf. Diese Wochen waren für sie in doppelter Hinsicht besondere Wochen. Und es passierte etwas Erstaunliches: Ihre Finger fanden wieder die richtigen Tasten, folgten dem Gefüge einer Komposition, als würden sie durch die Straßen der Kindheit gehen.

Seitdem ist das Klavier wieder ein selbstverständlicher Teil in Julias Leben. Sie spielt beinahe täglich und das alte Prinzip funktioniert wieder: Nach einem schlechten Tag kann das Klavier sie retten. Als viele der abgelegten Stücke wieder flüssig liefen, hat sie angefangen, sich neue zu erarbeiten. Sie hat sich Noten bestellt, von Klassikern, aber auch von Popsongs, die sie gerne hört. Es gibt jetzt keinen Lehrer mehr, der ihr helfen könnte, aber im Zweifelsfall gibt es Youtube, wo andere zeigen, wie man dieses oder jenes Klavierstück spielen könnte.

Das Klavierspiel ist für Julia viel mehr als nur sentimentale Rückbesinnung, sie will auch Neues entdecken und sich herausfordern. Sie mag die Auseinandersetzung. Nicht immer klappt es, manchmal bricht sie die Erarbeitung eines Stückes ab. Das neue alte Klavier hat seinen Platz in der geografischen Mitte der Wohnung. Die liegt im Flur und dieser Flur ist nicht nur eine Durchgangszone, sondern groß und wohnlich. Hier bleibt man gerne auch mal sitzen. Aber eigentlich ist es Julia gar nicht so wichtig, dass andere hören, wie sie spielt. Die eigenen Kinder waren anfangs etwas irritiert, als sie merkten, dass sich da etwas Neues, Altes entwickelte, von dem sie bislang wenig wussten. Und das mitten in der Pandemie, in der alle anderen von Katastrophe und Krise redeten.

Eine Fügung, ein Schicksal. Dieses FABELHAFTE DING, das alte Klavier, war zur rechten Zeit zur Stelle. Man könnte an ein Wunder glauben, aber das passt nicht unbedingt zu Julias Haltung. Sie sagt, sie habe halt Glück gehabt. Sie denkt gerne über diese Fragen nach, aber sie überhöht nichts, das Raunen über Mysterien überlässt sie anderen. Wenn es da Geheimnisse gibt, wird sie die klären, mit dem Klavier, unter vier Augen sozusagen. Und dieses Klavier wird nichts dagegen haben, wenn Julia über die Zukunft spekuliert: »Ich denke und hoffe, dass mich das Instrument jetzt für den Rest meines Lebens begleitet.«