Iyabos und Shinos SpeakUp!Box

Eine Box zum Sprechen

Wenn in einer fernen Zukunft Außerirdische den Planeten Erde betreten und die Hinterlassenschaften der Menschheit untersuchen, werden sie auf ein sonderbares Objekt stoßen:

Ausschnitte aus dem Interview mit Shino und Iyabo
(Untertitel verfügbar)
Einen kleinen Transportanhänger, zugelassen für den deutschen Straßenverkehr des 21. Jahrhunderts, darauf ein begehbarer Kasten, dessen Aussehen an ein kleines Häuschen erinnert. Man wird sicher noch erkennen, dass diese Box im Innern farblich angenehm gestaltet und mit Lampen ausgestattet war. Und man wird auch noch die Halterung für eine Videokamera finden.

Was werden die Außerirdischen über dieses fahrbare Häuschen denken? Es trägt den Namen »Speakup!Box«, diente also offensichtlich einzig und allein dem Zweck, sich hineinzusetzen und etwas auszusprechen. Man kann »speak up« auch mit »lauter sprechen« übersetzen. Die Außerirdischen werden sich über das Ding sehr wundern. Warum reden die denn nicht einfach miteinander, werden sie fragen und sich vielleicht stirnrunzelnd in ihre Nachschlagewerke vertiefen, in denen Menschen als soziale Wesen beschrieben werden. Eine wissenschaftliche Abhandlung wird sich damit befassen, welchen Einfluss die zu der damaligen Zeit grassierende Corona-Pandemie auf die Erfindung der Speakup!Box hatte.

Wir haben es einfacher, denn wir leben noch im Zeitalter der Speakup!Box und können die Erfinderinnen selbst fragen. Shino Maier ist eine von ihnen. Wir treffen sie in Hannover-Limmer, wo das Team gerade die Box aufbaut, um gemeinsam mit einer Nachbarschaftsinitiative zum Gespräch über Nachhaltigkeit und Klimakrise einzuladen. Shino interessiert sich für das Leben in Städten und genau das hat sie auch studiert: »Urbane Kultur, Gesellschaft und Raum«, so heißt der Studiengang, der passenderweise im Ruhrgebiet angesiedelt ist, wo man in den letzten Jahrzehnten erlebt hat, wie sich städtische Räume neu erfinden müssen, ohne ihre Geschichte vollkommen zu vergessen. Nach dem Studium hat es Shino 2019 nach Hannover verschlagen, sie war in der Kulturszene aktiv und arbeitete für das Projekt »Unter einem Dach«, das das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft fördert.

Eine kreative Explosion

Dann kamen die Corona-Pandemie und der erste Lockdown. »Das hat mich kalt erwischt«, erzählt sie. Verunsichert und in großer Sorge reiste sie nach München, um sich um ihre Familie zu kümmern. Aber bald schon kam ein Anruf aus Hannover. Iyabo Kaczmarek, mit der sie bei »Unter einem Dach« zusammengearbeitet hat, berichtete von einer neuen Projektidee, die trotz vielfältiger Einschränkungen politische Debatten ermöglichen sollte, als Ersatz für abgesagte Kultur- und Podiumsveranstaltungen.

Ein geschützter Raum, in dem man frei sprechen kann, allein mit einer Kamera. Die Gestaltung: angenehm, zum Wohlfühlen, ein winziges Debattenhaus gewissermaßen. Und es sollte mobil sein, damit sich die Box zu den Menschen bewegen kann – epidemiologisch zweifellos besser als umgekehrt. Aber auch eine Geste: Da, wo die Box steht, besetzen die Menschen den öffentlichen Raum und sprechen über ihre Anliegen.

Mit der Realisierung der Speakup!Box begann für Shino eine sonderbare und aufregende Zeit: Eine kreative Explosion, mit vielen Ideen und neuen Kontakten – alles unter den Beschränkungen der Pandemie. Während bei vielen anderen das Leben einfror, taute es bei ihr erst richtig auf. Die Begeisterung ist ihr auch ein Jahr später noch anzumerken. »Es ist ein ganz neues Netzwerk entstanden, mit Menschen, die sehr motiviert waren, ihre Fähigkeiten in dieses Projekt einzubringen.« Ein Tischler, eine Szenographin, eine Designerin, weitere Handwerker:innen. Innerhalb weniger Wochen baute das Team die Speakup!Box.
Zeitgleich begann die inhaltliche Arbeit: Über welche Themen sollen Menschen in der Box sprechen können? Wie erreicht man sie? Welche Genehmigungen sind nötig? Was gehört in ein Hygienekonzept? Alle Probleme ließen sich lösen und schon bald reiste der Anhänger durch die Stadt, stand auf öffentlichen Plätzen und lud zum Sprechen ein. »Wir geben einen thematischen Rahmen vor, stellen aber keine Interviewfragen«, erklärt Shino. »Die Menschen sollen drauflosplappern können.«

Wie wirken die Worte?

Die Initiatorinnen haben eine eigene Agenda: Sie setzen sich für mehr Teilhabe ein, für soziale Gerechtigkeit in einer vielfältigen Stadtgesellschaft. Anfangs sind sie vor allem in Stadtteilen unterwegs, in denen sie auf viele Gleichgesinnte treffen. »Aber dann ist uns klargeworden, dass wir auch raus müssen aus unserer Bubble.« Sie gehen in Stadtteile, die als schwierig gelten – in Hannover heißen sie Sahlkamp, Vahrenheide oder Mühlenberg. Auch hier freuen sich manche Menschen, dass sie Aufmerksamkeit bekommen, aber viele wollen nicht in die Box gehen. Sie sind kamerascheu, vor allem aber frustriert. Für Shino waren die Begegnungen neben der Speakup!Box oft interessanter als die Aufnahmen. Sie erinnert sich an ein einprägsames Gespräch: »Da wurde uns sehr deutlich der Spiegel vorgehalten. ›Es ist ja schön, dass ihr hier mal einen Tag Beteiligung macht. Aber es ändert sich doch sowieso nichts. Seit vier Jahren wird uns ein neuer Spielplatz versprochen. Seid doch mal ehrlich: Ihr würdet hier doch auch nicht wohnen wollen.‹«

Frust über die eigene Situation kann Menschen aggressiv werden lassen. Kommt es vor, dass abfällig oder rassistisch über andere Bevölkerungsgruppen gesprochen wird? Shino kann sich kaum an einen Fall erinnern. Die Erfahrung, in der Box zu sitzen, ist tatsächlich etwas Besonderes: die plötzliche Ruhe, das Alleinsein, ein Moment von Selbstreflexion lässt sich gar nicht vermeiden. Die Kamera wirkt wie ein Spiegel: Was ich sage, das sage ich mir selbst ins Gesicht. Es ist anders als vor dem Computer, wo schnell der ungeliebte und unsichtbare Mitmensch mit einer Ladung Hass überschüttet wird.

Auch wenn die Box nur dekorativ herumsteht, löst sie Gespräche aus, die den Zustand der Gesellschaft widerspiegeln. Gerade jetzt, etwas mehr als ein Jahr nach den ersten Einsätzen, entstehen viele neue Ideen: Man könnte die Box für Minikonzerte nutzen. Oder eine zweite Box daneben stellen und zu Zwiegesprächen einladen.

Weil gerade Kommunalwahlen vor der Tür stehen, hat das Team tatsächlich ein dialogisches Format entwickelt: Nach den Bürger:innen werden Politiker:innen aus den jeweiligen Stadtteilen eingeladen, um auf die Statements zu reagieren. »Wir machen die Erfahrung, dass die Politiker:innen nur selten klare Zusagen machen. Oft benutzen sie Phrasen und machen eher für sich selbst Werbung«, erzählt Shino. Letztendlich soll es nicht nur ums Reden gehen, sondern auch um die Wirksamkeit der Worte. So überlegt das Team, stärker mit dem Quartiersmanagement zusammenzuarbeiten oder nach einem Jahr an einen Ort zurückzukehren und zu überprüfen, was aus einem Thema geworden ist.

Interaktion mit dem Raum

Inzwischen ist die Box auf der kleinen Grünfläche in Hannover-Limmer aufgebaut und in Betrieb. Und auch die Initiatorin Iyabo Kaczmarek kommt dazu. Die Kulturveranstalterin ist in Hannover gut vernetzt und bekannt, spätestens seit dem Moment, als sie für das Amt der Oberbürgermeisterin kandidierte und als parteilose Kandidatin ein achtbares Ergebnis erzielte.
Iyabo ist ursprünglich Tänzerin, 2016 hat sie die Initiative »Unter einem Dach« gegründet. Zur Idee der Speakup!Box sagt sie einen schlichten, aber denkwürdigen Satz: »Was mir wichtig ist, das ist nichts Gegenständliches, es ist die Gemeinschaft.« Die Box mag ein FABELHAFTES DING sein, aber für Iyabo zählt das, was darin und damit passiert. Sie spricht von der Kraft der Gemeinschaft und aus ihren Formulierungen lässt sich ablesen, wie sie selbst diese Gemeinschaft in ihren Projekten lebt: »Ich habe die Idee in der Community geteilt und dann haben wir das umgesetzt. Allein kann ich so etwas nicht machen.«

Während ihrer Ausbildung zur Tänzerin hat sie etwas Wichtiges gelernt: »Ich nehme meine Tanzsprache in den Raum hinein, der mich umgibt. Ich interagiere mit dem Raum.« Wenn sie ein neues Projekt entwickelt, tue sie eigentlich nichts anderes. Ob die Corona-Pandemie das Bedürfnis nach politischer Mitgestaltung gestärkt hat? Darauf findet sie keine klare Antwort, sie schlägt den Bogen weiter – zu einer schwedischen Schülerin, die weltweit bekannt wurde: »Ich glaube, die Menschen sind in den letzten Jahren sensibilisiert worden. Und den Impuls dazu hat Greta Thunberg gesetzt. Dieses Mädchen hat es geschafft, dass Leute auch außerhalb des Klimathemas ihre Sinne schärfen. Da hat sich etwas entwickelt, bis es durch Corona gebremst wurde. Aber es ist nicht wegzukriegen. Wenn wir Glück haben, hat diese Zeit auch etwas Positives.«

Ein Symbol für die Demokratie

Wir wissen nicht, welche Spuren diese Zeit hinterlassen wird. Und wir können nur spekulieren, zu welchen Erkenntnissen die Außerirdischen kommen werden, wenn sie in einer fernen Zukunft die fahrbare Sprecherkabine untersuchen. Vielleicht werden sie verstehen, dass diese Speakup!Box etwas Besonderes ist, mehr als nur ein coronagerechtes »Aktiönchen«. Vielleicht werden sie die Box mitnehmen, als Kunstgegenstand, als Symbol für den Glauben an die Demokratie in einer für die Demokratie schwierigen Zeit.