Theatergeschichte(n)
Der Koffer – Anfang und Ende
Mit einem Koffer fing alles an: ein mit Stoff bespanntes Modell, rot-schwarz gemustert, vermutlich 70 Jahre alt oder älter. Zusammen mit einem Brief erreichte er Dr. Carsten Niemann, den Leiter des Theatermuseums in Hannover.
Ausschnitte aus dem Interview mit Carsten
(Untertitel verfügbar)
Zunächst verschwand der Koffer im Archiv des Museums, erst in der Zeit des Lockdowns fand sich die Gelegenheit für eine genauere Sichtung. Es traten Fotografien, Zeitungsberichte, Dienstverträge und -ausweise zu Tage, Taufscheine, Telegramme und Plakate, Dokumente aus dem Leben einer verzweigten Schauspielerfamilie. Hans Hintze, zuletzt Oberspielleiter, verstorben 1948 in Göttingen, seine Mutter Antonie Lipski, die Töchter Marcella und Vilma. Alle waren sie keine Berühmtheiten, aber ihre Spuren sind weitverzweigt, sie berühren sich mit namhaften Kollegen und Regisseuren, führen durch Stationen wie Eisenach, Breslau, Straßburg, Hannover. Und sie reichen weit zurück, bis tief ins 19. Jahrhundert.
»Was bleibt von solch einem Leben?«, fragt Carsten. Der Koffer soll die Besucher:innen des Theatermuseums anregen, darüber nachzudenken. Er ist gleich zu Beginn des Rundgangs durch die Ausstellung »Spurensuche. Vom Befragen der Dinge« zu sehen. Nicht erst diese Ausstellung macht Carsten zu einem Experten für FABELHAFTE DINGE. Er weiß, dass und wie Gegenstände Geschichten erzählen können. Schriftliche Erläuterungen zu den Ausstellungsstücken gibt es zwar auch, aber an den Vitrinen sucht man sie vergeblich. Die Dinge sollen zunächst einmal selbst Geschichten erzählen, sie setzen bei unbefangenen Betrachter:innen eigene Assoziationen und Erinnerungen frei.
Zeugnisse lebendiger Theatervergangenheit
Die Ausstellung im Theatermuseum präsentiert ausgehend von dem Koffer zahlreiche Fundstücke aus dem Archiv des Schauspielhauses, Zeugnisse einer vielfältigen und sehr lebendigen Theatervergangenheit. Plakate und Programmzettel verweisen nicht nur auf die jeweiligen Ereignisse, sie haben auch eine eigene ästhetische Qualität: Pathetisch geschwungene Buchstaben auf vergilbtem Papier, detailreiche Gestaltung. Große Namen tauchen auf: Heinz Rühmann, Mary Wigman, Kurt Schwitters als Plakatgestalter. Ein Brief von Carl Zuckmayer, eine Totenmaske des Intendanten Kurt Erhardt, ein Dirigierstab von George Alexander Albrecht.
Man verliert sich schnell zwischen diesen Erinnerungsstücken aus einer alten und glanzvollen Welt, aus denen gerade die profanen Dinge vielsagend hervorstechen: Besoldungsbücher und Personalakten, beispielsweise vom berühmten Geiger Joseph Joachim. Erhalten ist auch der Führerschein von Margarete Schönzart, die sich Margarete Schott nannte, ausgestellt am 17. Juni 1936. Die beliebte Komödiantin, gerne als »komische Alte« eingesetzt, scheint privat eine emanzipierte Frau gewesen zu sein, denn ein eigenes Auto zu lenken, war in diesen Jahren für eine Frau alles andere als selbstverständlich.
Ob auch sie jemals ein Lenkrad in die Hand genommen hat? Eine Fotografie zeigt eine Frau in dunklem Kleid, mit Schleppe und Rüschen, in würdevoller Pose, die Hand auf die Lehne eines gepolsterten Stuhles gelegt. Eingefasst in eine verwaschene Vignette scheint dieses Bild Lichtjahre entfernt zu sein von den lässigen Selbstinszenierungen auf Instagram und Co. Für den Außenstehenden ist kaum zu erkennen, ob es sich um ein Porträt handelt oder um eine Rollenfotografie. Auf eigenartige Weise überschneiden sich Privat- und Künstlerleben. Das Theater pflegt sein Andenken als Ort der Inszenierung, der großen Geste.
Aber wir wollen von Carsten Niemann eigentlich auch etwas über die Gegenwart wissen: Wie prägen seine Erfahrungen mit Archivarlien seinen Umgang mit dem Jahr 2020? Wie erlebt er den erzwungenen Stillstand am Theater, die Unsicherheit, den Zustand zwischen Sehnsucht und Verzweiflung? »Diese Dinge helfen innezuhalten und zu überlegen, was eigentlich wichtig ist. Ob dieser Wunsch, immer alles besser, schneller und größer zu machen, wirklich der richtige Weg ist.« Carsten glaubt, dass nach dem großen Stillstand vieles nicht mehr so sein wird wie zuvor.
Und dann, am Ende des Rundgangs, taucht er wieder auf, der Koffer, der eines Tages vor der Tür stand. Er ist nicht das bedeutendste Stück der Ausstellung, aber doch so etwas wie ihre Seele. Der Koffer ist das Utensil der Reisenden. Anders als die schicken Hartschalenrollkoffer von heute muss man so einen Stoffkoffer noch selbst tragen. Man muss wissen, was man mitnimmt. Muss aufpassen, dass er nicht an einer scharfen Kante hängen bleibt und aufreißt. Der Koffer enthält das Wesentliche, die Essenz, er wird hier zu einem Medium für eine Reise ins Innere – ein FABELHAFTES DING.